Diese Frage trifft einen Nerv – im wahrsten Sinne des Wortes. Denn sie stellt infrage, was viele als tiefes Persönlichkeitsmerkmal betrachten: Hochsensibilität. Doch was, wenn sich hinter dem Begriff nicht immer echte Empathie verbirgt, sondern manchmal nur eine besonders dünne Haut?
Heute bin ich wieder auf so ein schönes Spruchbild getroffen, mit dem sich so viele identifizieren wollen. Ich nenne es ja Sektenenergie.
Die Worte dabei haben mich zu diesem Beitrag veranlasst.
Gerade weil ich mich als sensibel empfinde, ohne mich auf hochsensibel hochstufen zu müssen, und auch so reagiere, und zwar und ohne zu viel Ego aufzubauen, entstand dieser Beitrag.
In einer Zeit, in der Selbstdefinition über Labels boomt, ist Hochsensibilität zum Abzeichen geworden. Wer sich als hochsensibel bezeichnet, gilt als feinfühlig, tiefgründig, besonders. Doch auffällig ist: Gerade Menschen, die andere schnell verurteilen, sich selbst immun gegen Kritik machen oder impulsiv reagieren, berufen sich oft auf ihre Hochsensibilität. Das wirkt widersprüchlich.
Denn echte Sensibilität ist kein lautes Statement, sondern ein stilles Mitgefühl. Sie zeigt sich nicht in Spruchbildern oder Selbstdiagnosen, sondern im Verhalten: in Rücksicht, in Achtsamkeit, in der Fähigkeit, andere wirklich wahrzunehmen. Wer ständig betont, wie sensibel er sei, aber dabei andere verletzt, lebt eher Empfindlichkeit als Sensibilität.
Vielleicht ist Hochsensibilität manchmal auch eine Maske – ein Schutzschild gegen die Zumutungen der Welt, aber auch gegen die eigene Selbstreflexion. Und vielleicht sind die wirklich sensiblen Menschen gerade die, die kein Etikett brauchen, um tief zu empfinden.
Was bedeutet Hochsensibilität eigentlich?

Der Begriff geht ursprünglich auf die US-amerikanische Psychologin Elaine Aron zurück, die in den 1990er-Jahren das Konzept der „Highly Sensitive Person“ (HSP) entwickelte. Hochsensible Menschen nehmen Reize intensiver wahr, verarbeiten sie tiefer und reagieren stärker auf emotionale, soziale oder sensorische Eindrücke. Es handelt sich dabei nicht um eine Krankheit oder Störung, sondern um eine neurobiologische Disposition, die etwa 15–20 % der Bevölkerung betreffen soll.
Doch was als wissenschaftlich fundierte Beschreibung begann, hat sich in der öffentlichen Wahrnehmung stark verändert. Heute begegnet man Hochsensibilität oft in Form von Spruchbildern, Selbstdiagnosen und Lifestyle-Statements: „Hochsensible hassen Lärm“, „Hochsensible brauchen Rückzug“, „Hochsensible sind besonders empathisch“. Die Komplexität des Phänomens wird dabei häufig auf stereotype Aussagen reduziert – und genau hier beginnt das Problem.
Vom Persönlichkeitsmerkmal zum sozialen Abzeichen
Immer mehr Menschen bezeichnen sich selbst als hochsensibel – oft ohne professionelle Diagnose, sondern basierend auf Online-Tests oder dem Gefühl, „anders“ zu sein. Das Bedürfnis nach Selbstverortung ist verständlich: In einer Welt, die laut, schnell und reizüberflutet ist, kann Hochsensibilität als Erklärung für Überforderung und Rückzug dienen. Doch wenn das Label zur Identität wird, entstehen neue Dynamiken.
Hochsensibilität wird dann nicht mehr als Eigenschaft verstanden, sondern als Abzeichen – ein Zeichen von Tiefe, Feinfühligkeit und moralischer Überlegenheit. Wer sich als hochsensibel bezeichnet, gehört zur „In-Group“ der besonders Wahrnehmenden. Das kann zu einem subtilen Ausschluss anderer führen: „Du bist nicht hochsensibel, also kannst du mich nicht verstehen.“ Die Grenze zwischen Selbstschutz und Selbstinszenierung verschwimmt.

Wenn Sensibilität zur Waffe wird
Besonders irritierend wird es, wenn Menschen, die sich als hochsensibel bezeichnen, selbst verletzend oder aggressiv auftreten. In sozialen Medien, Kommentaren oder Diskussionen begegnet man immer wieder Personen, die andere beleidigen, angreifen oder abwerten – und gleichzeitig ihre eigene Hochsensibilität betonen. Das wirkt paradox: Wie kann jemand, der angeblich besonders empathisch ist, so wenig Rücksicht auf andere nehmen?
Hier zeigt sich eine gefährliche Verzerrung: Hochsensibilität wird nicht als Einladung zur Achtsamkeit verstanden, sondern als Rechtfertigung für impulsives Verhalten. „Ich bin halt hochsensibel, deshalb reagiere ich so.“ Kritik wird als Angriff gewertet, Rückzug als moralische Notwendigkeit, und jede Form von Konfrontation als unzumutbar. Das Label dient dann nicht der Selbstreflexion, sondern der Selbstimmunisierung.
Was ist mit den „Normalsensiblen“?
In dieser Inszenierung geht eine wichtige Gruppe verloren: die Menschen, die sensibel sind, ohne sich als hochsensibel zu bezeichnen. Sie empfinden tief, reflektieren viel, sind empathisch – aber ohne das Bedürfnis, daraus eine Identität zu formen. Für sie kann die Hochsensibilitätsbewegung irritierend oder sogar ausgrenzend wirken. Denn wer nicht zur „besonderen“ Gruppe gehört, scheint weniger wertvoll, weniger komplex, weniger schützenswert.
Dabei ist Sensibilität ein Spektrum. Jeder Mensch hat individuelle Reizschwellen, emotionale Tiefen und soziale Bedürfnisse. Die Einteilung in „hochsensibel“ und „nicht hochsensibel“ ist künstlich und oft wenig hilfreich. Sie fördert ein Schwarz-Weiß-Denken, das der menschlichen Vielfalt nicht gerecht wird.
Sektenhafte Dynamiken: Wenn das Label zur Ideologie wird
Manche Beobachter sprechen sogar von sektenhaften Strukturen rund um das Thema Hochsensibilität. Das mag übertrieben klingen, doch gewisse Merkmale sind tatsächlich erkennbar:

- Abgrenzung nach außen: Die Welt „da draußen“ ist zu laut, zu grob, zu unsensibel – nur innerhalb der Hochsensiblen-Community findet man Verständnis.
- Dogmatisierung: Bestimmte Verhaltensweisen gelten als typisch oder notwendig für Hochsensible – wer anders tickt, „hat es nicht verstanden“.
- Unantastbarkeit: Kritik wird als Angriff auf die Identität gewertet – Diskussionen sind kaum möglich.
- Selbstüberhöhung: Hochsensibilität wird als Zeichen von spiritueller oder moralischer Tiefe dargestellt – andere gelten als oberflächlich.
Diese Dynamiken sind nicht repräsentativ für alle, die sich als hochsensibel empfinden. Aber sie zeigen, wie schnell ein psychologisches Konzept zur sozialen Ideologie werden kann – und wie wichtig es ist, differenziert zu bleiben.
Der feine Unterschied: Echte Sensibilität tickt anders
Ein wirklich sensibler Mensch tickt anders – leiser, tiefer, achtsamer. Er muss sich nicht ständig erklären oder verteidigen. Er spürt, was andere brauchen, ohne es zu benennen. Und vor allem: Er verletzt nicht, um sich selbst zu schützen. Echte Sensibilität ist kein lautes Statement, sondern ein stilles Mitgefühl.
Gerade deshalb ist es möglich, dass manche Menschen ihre eigene Unfähigkeit zur echten Sensibilität hinter der Maske der Hochsensibilität verstecken. Sie sehnen sich nach Tiefe, nach Bedeutung, nach Zugehörigkeit – und greifen zum Label, weil es ihnen eine Identität bietet. Doch Sensibilität lässt sich nicht antrainieren oder behaupten. Sie zeigt sich im Verhalten, nicht in der Selbstbeschreibung.
Ein Plädoyer für ehrliche Sensibilität
Was wäre ein gesunder Umgang mit Hochsensibilität? Vielleicht einer, der auf Tiefe statt Drama setzt. Der anerkennt, dass manche Menschen empfindsamer sind – aber ohne daraus eine Bühne zu machen. Der Rücksicht fordert, aber auch Rücksicht gibt. Der Selbstschutz erlaubt, aber nicht Selbstgerechtigkeit.
Echte Sensibilität bedeutet nicht, sich über andere zu stellen, sondern sich mit ihnen zu verbinden. Sie ist kein Schild gegen Kritik, sondern ein Kompass für Mitgefühl. Und sie braucht keine Etiketten, sondern ehrliche Begegnung.
©Erika Flickinger
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